Wahlen in der Türkei
Als vor Jahren die AKP die Bühne des politischen Islam noch gar nicht betreten hatte und deren Vorgänger-Partei (Refah – Wohlstandspartei) als Koalitionspartner der konservativen DYP (Partei des Rechten Weges) ihre bis dahin unerhörte islamistische Haltung zur Politik machte, sagte der berühmte Wortführer des türkischen Kapitals, Rahmi Koc, in einem Zeitungsinterview: “Die Türkei wird nicht ”Refah”isiert, aber Refah wird “Türkei”isiert werden.”
Diese Voraussage des Ober-Bosses beruhte auf zwei Grundannahmen. Erstens auf der Fähigkeit des bürgerlichen Staates, die Peripherie regulieren zu können und zweitens auf der Nachhaltigkeit der regionalen Mechanismen der internationalen Machtzentren.
Die erste Grundannahme hat sich als realistisch erwiesen. Durch die neuen Strategien des Imperialismus in dieser Region wurde die zweite jedoch zu einem Irrtum. Die Politik der Türkei verabschiedete sich von traditionellen Parametern wie Mitte-Rechts/Mitte-Links und der politische Islam – geführt durch die AKP – rückte ins Zentrum. Die Illusion einer “Türkei”isierung der bürgerlichen Politik nahm in kürzester Zeit eine andere Form an als gedacht, arrangierte sich mit den Akteuren der neuen Ordnung und wurde zur Masche der Restauration. Ein ähnliches Szenario wird nun, nach 12-jähriger Regentschaft des müden Erdogan und der zusammenbrechenden AKP, wieder auf die Tagesordnung gesetzt. An dieser Stelle gewinnt eine Frage an Relevanz: Wer/was wird nun “Türkei”isiert und wer/was wird “Türkei”isieren?
„Türkei“isierung oder „Normalisierung“ als Euphemismus der kapitalistischen Anpassung
Der politische Islam wurde durch die AKP ins Leben gerufen. Auch wenn die AKP nun das politische Feld verlassen sollte, gibt es genug andere Akteure, die mit dem Interesse, dieses System weiterzuführen, ins Feld rücken werden. Mit geschickten Strategien der Meinungsbildung wird die “Türkei”isierung der kurdischen Politik eingefordert. Natürlich unter der Voraussetzung, Teile der eigenen Prinzipien aufzugeben… In solch einer politischer Atmosphäre stand die Türkei nun vor den Wahlen am 7. Juni.
Die unter starkem Gedächtnisverlust leidende türkische Wählerschaft war am 7. Juni aufgefordert, die Position auf der Bühne der Türkei-Wahlen einzunehmen, um schon wieder die weniger schlechte unter den Systemparteien zu wählen. In der Umsetzung des Wahlkampfs hat sich nichts geändert. Das zu vermutende Ergebnis konnte nichts anderes sein, als ein Rollentausch von Parteien, die mit unterschiedlichen Benennungen und Funktionen den Interessen des Kapitals dienen.
Das neue an diesen Wahlen war, dass die HDP (Demokratische Partei der Völker) es schaffte, sie als Richtungswahl zu deklarieren und Teile der linken Bewegung für sich zu gewinnen. Dadurch schaffte sie es, die 10%-Hürde zu überwinden. Natürlich ist das nicht die erste parlamentarische Erfahrung für die türkischen Linken. 50 Jahre vor der HDP war TIP (Arbeiterpartei der Türkei) mit 15 Abgeordneten in das türkische Parlament eingezogen. Dadurch lernte die Türkei den Sozialismus kennen und es entstand ein fruchtbarer Boden für spätere sozialistische Bewegungen. Doch propagiert die HDP anders als die TIP, die 1965 mit der Forderung nach Sozialismus Präsenz zeigte, eine “Radikal-Demokratie”.
Das, was die HDP im Wesentlichen von der systemkonformen CHP (Republikanische Volkspartei) unterscheidet, sind ihre Wurzeln und breite Unterstützung in der kurdischen Nationalbewegung. Doch an dieser Stelle ist Vorsicht geboten! Denn es gibt viele ernst zu nehmende Anzeichen für das schon lange vor diesen Wahlen begonnene “Türkei”isierungs-Projekt, dem die kurdische Nationalbewegung als Mittel zur Rehabilitation des Systems dienen wird.
Ein Pakt mit der Religion ist ein Pakt mit dem Kapitalismus Der wichtigste Faktor der Normalisierung des Systems ist die kurdische Bewegung. Zumal die internationalen Begebenheiten sehr schnell eine Normalisierung und Teilhabe der kurdischen Bewegungen erfordern. Einer der nächsten Schritte der umfangreichen Operationen des US-Imperialismus in der Region fordert ein einheitliches Kurdistan. Alle kurdischen Bewegungen sollen der Kontrolle des Imperialismus unterworfen sein. Die, die sich dagegen wehren, werden durch die Schergen der IS auf Linie gezwungen.
Die PKK war gezwungen, nachdem die Idee eines sozialistischen Kurdistan verworfen und Abdullah Öcalan 1999 der Türkei übergeben wurde, erst unter dem Begriff “Demokratische Republik”, danach “Radikaldemokratie und Demokratische Nation” sich dieser Normalisierung zu öffnen. Dafür wurde mit dem Motto “Neues Leben” eine von Akteuren aus der Linksbewegung zusammengestellte HDP als ein neuer Mitspieler neben den systemkomformen politischen Akteuren platziert.
Im Machtpoker einer Welt ohne realsozialistische Mächte verlor auch die kurdische Bewegung vorhandene ideologische Parameter und wurde zu einer nationalistischen Bewegung verformt. Je mehr die nationalistische Ideologisierung anstieg, desto mehr distanzierten sie sich von den Arbeiterklassen. Parallel dazu wurden viele Kompromisse im Bereich des Kapitals und der Religion eingegangen.
Die Ansprache A.Öcalans zum Newroz-Fest von 2014, bei der er von einer “Jahrtausende alten Bruderschaft unter dem Dach des Islam” sprach, wurde der AKP und den internationalen Reaktionären als ein erster Schritt der Versöhnung präsentiert. Diese Versöhnung erreichte bei der gemeinsamen Operation von TSK (Türkische Armee) und YPG (Volksverteidigungseinheiten) zur Rettung eines osmanischen Grabmals im syrischen Gebiet den Höhepunkt.
Nachdem die kurdische Politik, die eine islamisierte Türkei nicht ablehnt, ihre Wahlpropaganda auf die Prämisse “Wir sind die wahren Muslime” aufbaute, blieb die Rolle als Verteidiger des laizistischen und säkularen Systems wieder den Kommunisten. Aufklärung als Basis für eine linke Bewegung wurde von Teilen der HDP mit Füßen getreten. Wahlkampfreden wurden unterbrochen, wenn Muezzin zum Gebet riefen. “Wochen des demokratischen Islam” wurden zelebriert, durch die Sektenführer eine Legitimationsgrundlage fanden. Einem Fundamentalisten und Anti-Kommunisten wie Said-i Nursi wurde gehuldigt, sein Name mehreren Straßen der Region gegeben, nur weil er Kurde war und sich gegen das republikanische System und den Kemalismus gewehrt hatte. Es wurde proklamiert, dass die “Religionsbehörde” geschlossen und dagegen eine “Glaubensbehörde” gegründet wird. Der Ko-Vorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, warf den Linken “Religionsfeindlichkeit” vor. In Begleitung von großen Showeinlagen wurde das Volk darüber informiert, was für ein guter Muslim er und seine Frau seien. Religion wurde Teil ihrer politischen Argumentation.
Die unabhängige Linie des Sozialismus
Nachdem klar wurde, dass die “Vereinigte-Juni-Bewegung”, die im Anschluss zur Gezi-Bewegung entstand, über eine gemeinsame Haltung bei den Wahlen keinen Konsenz fınden kann, beschloss sie, die Parteien zu unterstützen, die sich klar gegen die Islamisierung der Gesellschaft und zum Laizismus bekennen. Unter diesen Bedingungen war die Kommunistische Partei (Türkei) gezwungen, als einzige Partei, die einen Systemwechsel fordert, an den Wahlen teilzunehmen. Ein Boykott kam nicht in Frage, da das Interesse an diesen Wahlen sehr hoch ist und im Land noch keine revolutionäre Stimmung herrscht. In der Türkei gibt es eine stabile Masse, die auf Fragen zum Laizismus sehr empfindlich reagiert und sich für die Belange der Arbeiterklasse und der Unterdrückten einsetzt. Diesen Menschen muss man mehr als die CHP und die HDP bieten. Die Linken der Türkei haben den Sozialismus als realistisches Ziel aufgegeben. Dass für “Sozialismus” die Türkei noch nicht reif sei, wird immer wieder von manchen Parteien behauptet, die sich sozialistisch, gar kommunistisch nennen. Sie meinen, dass man auf dem Weg zum Sozialismus zunächst für “Demokratie” kämpfen müsse. Man kann von Bewegungen, die seit mehr als 40 Jahren diese Thesen vertreten, keine eindeutigen Schritte für eine Revolution und einen Sozialismus erwarten.
Diejenigen, die, die These von “Erst Demokratie, dann Sozialismus” vertreten, haben diese im Vorfeld der Wahlen zum 7. Juni verwässert zu: “Erst die Lösung der kurdischen Frage, dann der Kampf für Demokratie und zuletzt der Sozialismus”. Wenn die HDP näher betrachtet wird, ist festzustellen, dass viele der Unterstützer dieser eher sozialdemokratischen Partei Akteure des jahrzehntelangen Kampfes für Sozialismus sind. Und nicht nur im politischen Kampf, sondern auch im bewaffneten.
Die HDP, die bei Fragen zu Türkei-NATO Beziehungen sich eher taub stellt, erwähnt im Wahlmanifest mit keinem Wort die NATO. Wie eine “friedfertige Außenpolitik” mit der Mitgliedschaft in der NATO verwirklicht werden kann, bleibt unbeantwortet.
Das Gleiche gilt auch beim Thema EU. Es wird von einer Vollmitgliedschaft in der imperialistischen EU in einem klar definierten Rahmen gesprochen!
Es ist voraussehbar, dass die von der kurdischen Nationalbewegung dominierten linken Kräfte in der HDP sich nach den Wahlen spalten werden.
Differenzen im Begriff „Linke“
Was uns als “Türkei”isierung verkauft wird, ist nichts anderes als der Versuch, den türkischen Kapitalismus mithilfe der kurdischen Politik neu zu definieren. Das Projekt des Großkapitals und des US-Imperialismus kann mit “Fortsetzung des AKP-Systems ohne AKP!” beschrieben werden. Die sogenannte Normalisierung ist nichts anderes als die Syriza “ á la turca”.
Die Kommunistische Partei (Türkei) beschloss an diesen Wahlen teilzunehmen, da sie die unabhängige Linie von Revolution und Sozialismus gegen Sozialdemokratie, Liberalismus und Nationalismus verteidigen möchte. Es wird eine Partei benötigt, die sich gegen Kompromisse und für den Klassenkampf einsetzt. Die Partei hat mit der Aufstellung von 550 Kandidatinnen* auch ein starkes Zeichen gegen das islamisch geprägte Frauenbild als Menschen zweiter Klasse gesetzt.
Die Kommunistische Partei macht keine Wahlversprechen. Wir versprechen unserem werktätigen Volk nur: Wir werden den Sozialismus in der Türkei gründen!
Wenn diese Wahl, wie behauptet eine Entscheidungswahl sein sollte, wird sie die Entscheidung zwischen den Teilen der Linken, die diese Ideale verwässern und denen, die die Fahne der Revolution des Sozialismus hochhalten, bringen.
Tevfik Tas
erschienen in Berliner Anstoß Ausgabe Juli/August 2015
* „Kandidatinnen“ ohne Binnen-I: Es handelte sich ausschiesslich um Frauen.