Es gibt ja unter den Linken das geflügelte Wort, wonach die Wahlen längst verboten wären, wenn diese etwas ändern würden. Die Türkei, die in diesem Jahr zum zweiten Mal zu den Urnen gerufen wird, soll über ihre „Zukunft“ entscheiden; so lautet die altbekannte bürgerliche Leier, die auch in Deutschland sehr bekannt ist. Die Wahl im Juni scheint ja nichts „verändert“ zu haben, daher soll das Spiel mit gezinkten Karten nochmal wiederholt werden. Diese bürgerliche Zukunft, die nichts anderes als ein qualvolles, unendliches Dahinsiechen ist, bietet den Bürgern in der Türkei im Moment eine Art „Balkanisierung-Irakisierung“ mit dazu gehörigen Bombenopfern. Dazu hat der Kommunist Tevfik T. von der KP (Türkei) folgende treffende Aussagen gemacht, die auch für die Wahlen im November Gültigkeit haben: „Die unter starkem Gedächtnisverlust leidende türkische Wählerschaft war am 7. Juni aufgefordert, ihre Position auf der Bühne der Türkei-Wahlen einzunehmen, um schon wieder die weniger schlechte unter den Systemparteien zu wählen. In der Umsetzung des Wahlkampfs hat sich nichts geändert. Das zu vermutende Ergebnis konnte nichts anderes sein, als ein Rollentausch von Parteien, die mit unterschiedlichen Benennungen und Funktionen den Interessen des Kapitals dienen„(Berliner Anstoß, Juli-August 2015).
Alle systemkonformen Parteien (dazu zählen wir auch die HDP – Demokratiepartei der Völker -, zu ihr werden wir noch kommen) und die imperialistischen Zentren versuchen seit dem Juni-Widerstand im Jahr 2013 mit wechselnder Intensität die Regierungspartei AKP – Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung – umzuformen bzw. für den unberechenbar gewordenen Erdogan eine Lösung zu finden. Deswegen müssen wir rekapitulieren, was seit den Juni-Wahlen passiert ist, welche Positionen im bürgerlichen Lager vertreten werden und was aus dessen Erwartungen geworden ist.
Die Strategie des kontrollierten Chaos
Erdogans Traum von einem Präsidialsystem wurde eine Absage erteilt. Dazu sagte ein Führungsmitglied der AKP, Burhan Kuzu, dass das Volk nicht die Stabilität, sondern das Chaos gewählt habe. Dass dieses Chaos von der AKP erst ermöglicht wurde, ist kein Geheimnis. Nach inoffiziellen Angaben sind seit den Juni-Wahlen durch den von der AKP forcierten Krieg gegen die PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) und durch den ebenfalls von der AKP ermöglichten islamistischen Terror über 700 Menschen getötet worden. Mit der Entfesselung des Krieges gegen die kurdische Bewegung versucht die islamo-faschistische AKP nicht nur die 1,5 Millionen Wähler zurückzugewinnen, die sie an faschistische MHP verloren hat, sondern ihre gescheiterte Syrien-Strategie doch noch zu retten.
Die Strategie der AKP fußte im Wesentlichen auf Ahmet Davutoglus Vorstellung von einer „strategischen Tiefe“, die die Interessen der sunnitischen Erdölmonarchien mit den Interessen des Imperialismus im Mittleren Osten in Einklang bringen sollte. Dabei sollten in der Türkei unter dem ideologischen Schlachtruf des „Neo-Osmanismus“ einerseits die Überbleibsel der kemalistischen Reformen liquidiert, andererseits aber in der Region kühnere Schritte unternommen werden. Diese „Kühnheit“ wird jetzt bestraft, da die AKP sich in Syrien zu weit aus dem Fenster gelehnt hat. Basar Assad sollte nach den Plänen der AKP innerhalb weniger Monate erledigt sein, aber nicht einmal die demilitarisierten Gebiete mit Flugverbotszonen entlang der Grenze konnten durch die Türkei realisiert werden – im Gegenteil, solche Gebiete entstanden ausgerechnet unter der Regie der PKK! Eine Partnerschaft zwischen der kurdischen Bewegung und dem US-Imperialismus in Kobane konnte nicht vereitelt werden… und seit dem Eingreifen Russlands kann man die Syrienpolitik der AKP nur noch als gescheitert bezeichnen.
Warum die AKP den Islamischen Staat immer noch unterstützt, kann nicht nur mit ihrer ideologischen Verwandtschaft erklärt werden. Die Dynamik der kurdischen Volksmassen in Syrien und in der Türkei, aber auch der Juni-Widerstand 2013 in der Türkei selbst, den die AKP nicht vergessen kann und will, zwingt die AKP, sich mit solchen paramilitärisch-terroristischen Strukturen zu verbrüdern, zumal sie sich immer noch nicht vollkommen auf die türkischen Streitkräfte verlassen kann. Wozu diese Bruderschaft im Stande ist, haben wir im Sommer in Suruc und kürzlich am 10. Oktober in Ankara hautnah miterlebt.
Es geht nicht um Erdogan, sondern um das System
Die überholte Syrienpolitik der AKP reißt den Graben zwischen der AKP und dem Imperialismus weiter auf. So versuchen die USA im Norden Syriens mit Kurden und arabischen Kräften eine schlagkräftige Front gegen den Syrischen Staat zu eröffnen, der durch das kluge Eingreifen Russlands die strategische Offensive ergriffen hat. Das bedeutet, die YPG (ergo PKK) ist zum Partner des US-Imperialismus geworden, und diese Zurück- und Zurechtweisung der AKP hat weiter gehende Auswirkungen in der türkischen Politik. Dementsprechend ist auch der Terror-Anschlag von Ankara zu beurteilen: Das „kontrollierte Chaos“, das die AKP seit den Juni-Wahlen erprobte, wurde mit diesem Anschlag gegen sie gerichtet. In diesem Zusammenhang gibt der Artikel in der Times nach dem Anschlag von Ankara die Sichtweise des Imperialismus auf die türkische Politik wieder: „… Wir brauchen dringend eine Türkei, die nicht durch die Gesetze der geheimen osmanischen Intrigen, sondern durch kluge Umsicht regiert wird.“
Da selbst die Medienorgane des Imperialismus auf “Klugheit“ pochen, muss die Frage nach der geistigen Gesundheit Erdogans kurz angeschnitten werden. Wird die Türkei von einem Wahnsinnigen regiert bzw. ins Chaos gestürzt? So argumentieren all diejenigen (Liberale, Sozialdemokratie, aber auch die kurdische Bewegung), die sogar während des Juni-Widerstands Erdogan unterstützt und so seinen Macherhalt gesichert haben. Als ein verrückter „Möchtegern-Sultan“ kann Erdogan natürlich betrachtet werden, aber welcher faschistische Potentat hat nicht die Tendenz zum Irrealen und Krankhaften?
Aber! – Aber an dieser Stelle wird die altbekannte Taktik angewandt, die die herrschende Klasse aus dem Schussfeld nimmt und alle Sünden und Verbrechen auf ein einziges Individuum reduziert. Es kann auch so formuliert werden: Wer vom deutschen Imperialismus nicht reden möchte, soll auch über Hitler nicht das Maul aufreißen, ergo: Wer vom türkischen Kapitalismus nichts hören will, soll über Erdogan kein Wort verlieren! Dementsprechend hat Kemal Okuyan, Mitglied des ZK der KP (Türkei), gezeigt, wie man Erdogan beurteilen muss: „Die Unwissenheit und das Gefühl der Ohnmacht gegenüber Naturereignissen führte einst zur Entstehung der Magie, zum Totem und zur Bildung von primitiven Religionen. Die Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Ereignissen bildet die Existenzgrundlage von Verrückten, Wahnsinnigen und Diktatoren. Wir haben selbst erlebt, dass unser Erdteil eine Kristallisation der Anhänger und der Gegner des Diktators nicht zulässt. Dazu bedarf es einer Voraussetzung: Wenn er als Verkörperung der religiösen Reaktion, der Herrschaft des Kapitals und des Imperialismus gebrandmarkt worden wäre und davon ausgehend eine Positionierung stattgefunden hätte, dann hätte diese Gesellschaft einen Ausweg gehabt. Bei dem Juni-Widerstand hätte eine solche Kristallisation beinahe erreicht werden können… Davor hatten sie Angst“ (Kemal Okuyan, Kolumne im Nachrichtenportal soL, 28. Juli 2015).
Daraus folgt: Wer die Ursachen der andauernden Massaker in der Türkei auf die Person Erdogans reduziert und ihn als Grund allen Übels ins Kreuzfeuer nimmt, aber die Spuren seiner Partei, der Bourgeoisie und des Imperialismus verwischt, der wird bewusst oder unbewusst zum Fußsoldaten der gerade stattfindenden bürgerlichen Restauration in der Türkei. Oben haben wir ausgeführt, dass Erdogan für den Imperialismus und für die herrschende Klasse in der Türkei nicht länger tragbar ist. Die KP (Türkei) formuliert seit dem Juni-Widerstand 2013, dass Erdogan erledigt und politisch tot ist. Und wie alle Untoten lebt er vom Blut, von der Zerstörung und dem Chaos. Aber er ist nicht der einzige, der sich überlebt hat, Imperialismus als System insgesamt ist und bleibt der sterbende Kapitalismus. Erdogan als ein Produkt eines Systems zu bekämpfen, das ebenso zerstörerisch, irrational und reaktionär ist wie er selbst, ist im Augenblick das politisch Sinnvollste, was einer kommunistischen Partei geziemt. Das muss deshalb betont werden, weil alle Kräfte der politischen Linken außer der Kommunistischen Partei (Türkei)sich im Moment hinter die HDP gestellt und den „Kampf gegen Erdogan“ auf ihre Fahnen geschrieben haben.
Hat die HDP zum Erstarken der Linken beigetragen?
Man muss diese Frage genau so stellen, weil alle Kräfte der Linken im Juni-Wahlkampf 2015 genau mit diesem Argument zur Wahl der HDP aufgerufen hatten. Die HDP sei die einzige Kraft, die die AKP stoppen und so zu einem Erstarken der Linken insgesamt beitragen könne. Dass die HDP beim besten Willen nur als eine Art neuer Sozialdemokratie bezeichnet werden kann, dass diese Partei keine sozialistischen Positionen vertritt, dass sich unter ihren Kandidaten lauter religiöse Fanatiker, Großgrundbesitzer und Kapitalisten befinden, störte diese Kräfte nicht. Kompromissbereitschaft um jeden Preis führte zum allmählichen Verschwinden von antiimperialistischen und antikapitalistischen Positionen. Und diese Kompromissbereitschaft wird selbst nach einem Anschlag wie dem von Ankara durch eine prominente Politikerin der HDP so formuliert: „ Der Staatspräsident soll alle Oppositionsparteien zusammenrufen, und diese sollen eine gemeinsame Haltung gegen die Gewalt formulieren“ (Leyla Zana, HDP-Abgeordnete von Agri, 15.10.2015).
Diese Kompromissbereitschaft ist einer der Gründe, warum ein politischer Zombie wie Erdogan immer noch Gewicht hat: weil die HDP nicht das System Erdogan, sondern – wenn überhaupt – die Person Erdogan bekämpfen möchte. Stimmen aus der HDP scheinen sogar Zustimmung zu einer großen Koalition von HDP, AKP und CHP zu signalisieren. So schrieb Veysi Sarisözen in der Tageszeitung der HDP 2 Tage vor dem Massaker:
„ Das Ergebnis der Wahlen sollte akzeptiert werden. So können die Optionen eines „Militärputsches“ und einer „Diktatur“ ausgeschlossen und das Land kann in einer großen Koalition der HDP mit AKP oder CHP oder mit beiden zu seinem Wohl geführt werden.“
Zwei Minister von der HDP bei der „Kriegsregierung“
Wir haben mehrmals betont, und alle Ereignisse in der Türkei in den letzten 13 Jahren haben unsere Aussagen bestätigt, dass die AKP keine gewöhnliche Partei darstellt und die Überwindung dieser Verbrecherorganisation keine Tat der parlamentarischen Oppositionen und Optionen wird sein können. Die zitierte Aussage von Sarisözen bildet keine Einzelmeinung. So hat die HDP sogar der Entsendung von Ministern in eine AKP-geführte Übergangsregierung zugestimmt. Selbst die faschistische MHP und die kemalistische CHP lehnten es ab, Minister zu stellen. Dass die zwei HDP-Minister nach kurzer Zeit diese „Regierung“ verlassen haben, die danach von der HDP als „Kriegsregierung“ bezeichnet wurde, grenzt schon an Komödie. Was „eine Linke“ in einer Koalition oder allein an der Regierung zu bewerkstelligen im Stande ist, sollte spätestens seit den Erfahrungen in Griechenland obsolet geworden sein.
Eine Regierung innerhalb des Systems führt zwangsläufig zur Restauration des Systems; die Erlangung der politischen Macht, die zur Systemüberwindung führt, bedarf aber einer anderen Politik und einer anderen Organisation. Und diese Organisation, die Kommunistische Partei (Türkei), wird als einzige linke Kraft wieder an diesem Wahlen teilnehmen. Nicht weil sie an dieses System glaubt, nicht weil sie den Parlamentarismus und die bürgerliche Klassenherrschaft als gegeben nimmt, sondern weil sie den Menschen die Alternative zeigen muss. Sie muss als unabhängige politische Kraft wahrgenommen werden und dem Sozialismus ein Plattform geben. Und unsere Aussage vom Juni gilt nach wie vor:
„Wenn diese Wahl, wie behauptet, eine Entscheidungswahl sein sollte, wird sie die Entscheidung zwischen den Teilen der Linken bringen, die ihre Ideale verwässern, und denen, die die Fahne der Revolution und des Sozialismus hochhalten.“
Talip Güngör
erschien auf Nachrichtenseite der DKP am 28.10.15, news.dkp.de